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"Wer kann ich werden - Wer soll ich sein?" Selbstbildungsprozesse junger Menschen in der Jugendhilfe
(2011)
"Wer kann ich werden - Wer soll ich sein?" - Mit diesen beiden grundlegende Lebensfragen resümieren die beiden Jugendlichen, deren individuellen Verarbeitungsprozesse Gegenstand der Untersuchung sind, ihren (Selbst-)Bildungsprozess. Sie verweisen dabei auf ein wesentliches Ergebnis dieser Studie: Selbstbildungsprozesse formieren sich als einen aktiven Balanceakt der jungen Menschen zwischen individuellen Selbstkonstruktionen und Fragen der Sozialintegration. Der Blick wird dabei auf die prozesshafte Entwicklung der subjektiven Bildungsbemühungen gerichtet. Es handelt sich um ein ambivalentes Spannungsgefüge, welches sich darin ausdrückt, dass einerseits "von Außen (durch den Erzieher) geleitet" und andererseits "von Innen (durch den Jugendlichen) gesteuert" wird. Letztendlich haben jedoch viele Jahrhunderte von (praktischen) Erziehungsversuchen und vielfaches (theoretisches) Nachdenken über Erziehung und Bildung gezeigt, dass der Erfolg zum großen Teil von den jungen Menschen selbst abhängt. Damit rückt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Selbsttätigkeit des Menschen in den Fokus. Die Beschäftigung mit Prozessen der Selbstbildung stellt eine äußert komplexe Herausforderung dar. Sie läuft schnell Gefahr, dies unter normativen Aspekten zu diskutieren. In diesen Forschungszusammenhang soll der Blick explizit nicht auf die normativen Anteile des Themas gelenkt werden, sondern es ist vielmehr ein Ziel der Arbeit, empirische Befunde dazu zu erarbeiten und Kontextwissen zu generieren.rnDie Untersuchung thematisiert sowohl die Verbindungen zwischen Selbstdeutungskonstruktionen junger Menschen und Fremddeutungen relevanter Erwachsener, sowie die sich daraus entwickelten Muster der Lebensbewältigung der Jugendlichen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen die jungen Menschen und ihre Bildungsanstrengungen. Anhand ihrer Selbstkonstruktionen, in denen sie ihre relevanten Themen zum Ausdruck bringen und den Fremddeutungen der am Fall beteiligten Erwachsenen, wird der Frage nachgegangen, ob und wie die unterschiedlichen Deutungsfolien anschlussfähig sind und welchen Einfluss sie auf die jugendlichen Selbstbildungsprozesse nehmen. Durch die Rekonstruktion der Deutungs- und Konstruktionsmuster der unterschiedlichen Fallbeteiligten sollen sowohl praxis- wie auch forschungsrelevante Erkenntnisse über Selbstbildungsprozesse junger Menschen gewonnen werden, die im Verlauf ihrer Lebensgeschichten Adressaten der Jugendhilfe geworden sind. Ein solch komplexes Forschungsvorhaben gewinnt im Bezug auf die Diskurse zur adressatenbezogenen Jugendhilfe an Bedeutung, da es möglich wird, einen Einblick in Verarbeitungsmuster und Bewältigungsstrategien der Heranwachsenden zu gewinnen. Die vorliegende Arbeit nimmt die subjektiven Sinnzuschreibungen in den Blick, um darüber einen erkenntnisgeleiteten Zugang zu den Deutungs- und Konstruktionsmustern in ihren jeweiligen Sinnzusammenhängen zu erschließen. Gesamtgesellschaftliche Modernisierungs- und Wandlungsprozesse beeinflussen individuelle Lebensverläufe und damit auch subjektive Deutungen unterschiedlichster Lebensereignisse. Biographische Werdungsprozesse weichen von vermeintlichen "Normalbiographien" ab. Aufgabe pädagogischer Fachkräfte ist es, die selbstreflexiven Verarbeitungsprozesse junger Menschen zu begleiten und zu unterstützen. Von daher scheint es erforderlich, dass Fachkräfte ihre Kompetenzen zur Entschlüsselung individueller Bildungsbemühungen und zur Wahrnehmung biographischer Deutungskonzepte weiter entwickeln und schulen, um einen verstehenden Zugang zu den Wirklichkeitskonstruktionen junger Menschen zu gewinnen. Welche subjektive Bedeutung die Heranwachsenden den Einflüssen der Jugendhilfe zusprechen ist entscheidend für die Frage, inwieweit sie diese Erfahrungen als Unterstützung für ihre individuellen Bildungsprozesse begreifen. "Selbstbildungsprozesse junger Menschen in der Jugendhilfe" setzen sich mit der Frage auseinander, über welche Bewältigungsstrategien und Interaktionsmuster die Heranwachsenden verfügen. "Mit diesem Zugang wird der Blick auf die "Eigensinnigkeit" subjektiver Äußerungen in ihren biografisch verorteten und gesellschaftsrelevanten Bezügen gelegt." (Normann 2003, 10). Es geht also um die Rekonstruktion sozialer Wirklichkeitsbezüge aus der Sicht der jungen Menschen. Die Jugendlichen werden als aktiv Handelnde und als ExpertInnen ihrer Lebenswelt verstanden, die in der Interaktion mit Anderen die Balance zwischen sozialer Anpassungsleistung und Entwicklung ihres individuellen Lebenskonzeptes finden müssen. Subjektive Deutungs- und Konstruktionsprozesse sollen in diesem Kontext herausgearbeitet und dargestellt werden.
"Da wollten ich und mein Bruder jetzt so ein Lied machen und das heißt "Vergangenheitsträume" so. (...) Und da wollten wir so über alles, was wir beide so erlebt haben, schreiben." (Karsten, 17 Jahre). Dieses Zitat entstammt einem Interview, das, neben weiteren, im Rahmen dieser Forschungsarbeit ausgewertet und interpretiert wurde. Es fasst in komprimierter Form zusammen, worum es in dieser Arbeit gehen soll: Bildung und Biografie. Ein junger Menschen, Karsten, berichtet in einem Interview, dass er angefangen hat zu rappen. Die Texte handeln von Erlebnissen und Erfahrungen seines Lebens. Er blickt gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder zurück und hält Gedanken und Gefühle hierzu fest. "Bildung" soll verstanden werden, als eine kritische Auseinandersetzung mit sich und der Welt. Hierbei steht das eigene Leben im Fokus. "Biografie" soll verstanden werden als ein soziales Konstrukt. Ereignisse und Handlungen werden in eine Ordnung, in einen Zusammenhang gebracht. Der Prozess, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen dient dem Selbstverstehen und dem Fremdverstehen. Es ist mit "aktivem Tun" verbunden. Es passiert nicht einfach mit einem Menschen, vielmehr stellt es einen aktiven Prozess dar. Das Ordnen, Zusammenführen, in-Beziehung-setzen und Verstehen von Erlebnissen, Erfahrungen und Träumen des eigenen Lebens steht im Vordergrund von Bildungs- und Biografisierungsprozessen. Daher wurde der Titel für diese Forschungsarbeit ausgewählt. Im Fokus dieser Studie stehen Veränderungsprozesse der Konstruktionen von "Selbstbildern" und "Weltbildern" vier junger Menschen sowie von ihren Handlungsmustern. Die Begriffe "Selbstbild" und "Weltbild" enthalten die Vorstellung, dass Menschen die Bilder, die sie von sich selbst und von der Welt in sich tragen, im Laufe des Lebens entwickeln. Kinder entfalten eine Vorstellung davon, wie sie aussehen, welche Eigenschaften sie besitzen und was sie gut oder weniger gut können. Vielfältige Faktoren tragen zur Entstehung und Entwicklung dieser konstruierten Selbst- und Weltbilder bei (vgl. beispielhaft zu Traumaerlebnissen Dillig 1983).
Es wird in dieser Arbeit versucht nachzuzeichnen, ob bzw. wie sich diese Selbst- und Weltbilder der jungen Menschen und ihre Handlungsmuster im Verlauf verändern. Dies ist dadurch möglich, weil es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine Langzeituntersuchung handelt. Mit den vier jungen Menschen (Anni, Ben, Julia und Karsten) wurden zu verschiedenen Zeitpunkten Interviews geführt, in denen sie über ihr Leben berichteten. In § 1 SGB VIII wird an die Kinder- und Jugendhilfe der Auftrag formuliert, die Entwicklung von Kindern zu fördern. Jugendhilfe hat den Auftrag, Einfluss auf den Prozess der Bildung zu nehmen und die Entwicklung der jungen Menschen zu fördern, sie soll Bildungsprozesse anstoßen. Kinder machen vielfältige Erfahrungen in ihrem Leben. Sie lernen ihre "Lebenswelt" kennen und entwickeln in Auseinandersetzung mit der Welt, "eigene-sinnige" Vorstellungen von sich und von ihrer Lebenswelt (vgl. dazu Tenorth / Tippelt 2007; Marotzki 2004). Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich mit den Selbst- und Weltkonstruktionen der jungen Menschen beschäftigen, wenn sie sich als eine an der Lebenswelt orientierte Jugendhilfe verstehen will. Sie muss sich mit den Lebensgeschichten ihrer Adressaten befassen, mit ihnen gemeinsam Biografiearbeit leisten. Dazu benötigt sie unbedingt einen verstehenden Zugang zu den jungen Menschen und ihren Interpretationen vergangener Erfahrungen (Vergangenheitsträume), um mit ihnen (neue) Lebensentwürfe, Zukunftsträume entwickeln zu können.
Des Weiteren geht es in der Arbeit um Überlebensmuster junger Menschen. Vielleicht ruft die Wahl des Begriffs Verwunderung oder Unverständnis hervor. Die Vorstellung, dass es um Muster geht, die das "Überleben" sichern sollen, mutet dramatisch an. Doch zeigen die Ergebnisse der Fallrekonstruktionen, dass dieser Vergleich durchaus angemessen erscheint (vgl. dazu auch Schrapper 2002). Für die Kinder- und Jugendhilfe stellt sich zudem die Frage nach der Wirksamkeit ihrer Bemühungen. Ist die Jugendhilfe ihrem Auftrag nachgekommen? Kann dies in den Interviews mit den jungen Menschen gezeigt werden? Wenn davon ausgegangen werden kann, dass (öffentliche) Erziehung (nachhaltig) Einfluss auf das (Er)Leben und Erzählen von Jugendlichen hat und damit auch auf die Selbst- und Weltbilder und ihre Überlebensmuster, so bieten Interviews, die zu verschiedenen Zeitpunkten geführt wurden, die Chance, dieser Frage nachzugehen. Die Forschungsfragen, die dieser Arbeit zu Grunde liegen, sind jedoch Fragen die nicht auf das Thema "Geschlossene Unterbringung" begrenzt sind. Sie können in allen anderen pädagogischen Zusammenhängen gestellt und bearbeitet werden, da der theoretische Kerngedanke der Fragestellungen nicht von einer bestimmten Intervention oder vom Setting einer Hilfe abhängt. Es werden in dieser Arbeit Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe formuliert, die verdeutlichen, welche Aufgaben die Kinder- und Jugendhilfe leisten muss, damit sie Kindern und Jugendlichen Bildungserfahrungen ermöglichen kann.
Die formulierten Anforderungen werden im Verlauf nochmals aufgegriffen und sollen anhand der Forschungsergebnisse diskutiert werden. Im Mittelpunkt stehen die Fallrekonstruktionen vier junger Menschen. Hier werden in einem ersten Schritt jeweils Lebens- und Hilfegeschichten der jungen Menschen tabellarisch dargelegt. Es folgt eine Darstellung des Verlaufs der Selbstbilder, der Weltbilder und der Handlungsmuster der Jugendlichen, die jeweils mit einem Fazit enden. In der Zusammenfassung werden jeweils die Bezüge und Zusammenhänge zwischen den konstruierten Selbstbildern, Weltbildern und Handlungs- bzw, Überlebensmustern vorgestellt.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich im Wesentlichen in vier Bereiche. Sie gibt einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen einer Pädagogik für Menschen mit Förderbedarf im Bereich ihrer geistigen Entwicklung und versucht eine Fokussierung von paradigmatischen Entwicklungen hin zu einer inklusiven Bildung mit dem Anspruch einer angemessenen Qualitätssicherung des Bildungsangebotes. Nach der Einleitung und einer allgemeinen theoretischen Verortung der Fragestellung werden im zweiten Kapitel begrifflichen Grundlagen gelegt sowie das Konzept einer inklusiven Bildung und der selbstbestimmten Teilhabe an allen gesellschaftlichen Prozessen einschließlich des theoretischen Modells des Empowerments hergeleitet. Das dritte Kapitel befasst sich mit aktuellen Aspekten curricularer Entwicklungen für Schüler mit Förderbedarf im Bereich ihrer geistigen Entwicklung einschließlich der Diskussion von möglichen input-orientierten Bildungsstandards in der Sonderpädagogik. Im vierten Kapitel werden Grundlagen der Organisationsentwicklung und des Qualitätsmanagements für Förderzentren erläutert sowie Evaluationsmöglichkeiten dargestellt und für die unmittelbare Praxisanwendung realisiert.